Das 'Alice im Wunderland-Syndrom'
Eigentlich war er ein etwas langweiliger und pedantischer Mathematiklehrer am Christen Church College in Oxford, der 1832 in Daresbury, England geborene Charles Lutwidge Dodgson. Unter Kindern aber wurde aus dem menschenscheuen Sonderling ein sprühender Erzähler. Etwa dann, wenn er den drei Schwestern der Familie Liddell seine phantastischen und skurrilen Geschichten erzählte. Die Geschichte vom Wunderland gefiel der kleinen und aufgeweckten Alice besonders gut und sie wünschte, dass er diese für sie aufschreibe. Und so schenkte Herr Dodgson der kleinen Alice das handgeschriebene und eigenhändig illustrierte Buch 'Alice im Wunderland' zu Weihnachten 1864 und nannte sich als Autor von da an Lewis Carroll.
Zu 'Alice im Wunderland' gehören somit zwei Geschichten: die reale Geschichte von Alice Pleasance Liddell und Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll. Und die erzählte und dann aufgeschriebene Geschichte von Alice im Wunderland. Und beide Geschichten sind eng miteinander verknüpft, die reale und die fiktive, was auch in dieser Theaterversion im Kollegitheater mit ins Spiel gebracht wird. Die beiden Protagonisten wechseln immer mal wieder von der Realität in die Fiktion der Wunderwelt. Der sinnierende und fotografierende Lewis Carroll mutiert zum wegweisenden weissen Kaninchen. Ihm folgt die tagträumende Alice und purzelt dabei in jene verrückte und verzauberte Wunderwelt, die sie ebenso verstört wie fesselt.
Alice fällt aus dem gewohnten Rahmen von Raum und Zeit, fällt in ein 'Gespinst wilder Träume und endloser Räume'. Die Zeit steht still oder hat keine Bedeutung mehr. Alice gerät in eine Schwindel erregende Achterbahn, wo oben und unten durcheinander wirbeln, in eine gruselige Geisterbahn, in ein abstruses Figurenkabinett mit plappernden, schreienden, weinenden, lächelnden Tieren, Pflanzen und schrägen Gestalten, in ein Spiegellabyrinth voller verwirrender Zerrspiegel. Alice weiss nicht mehr, wer sie ist und wie sie heisst. 'Heute Morgen hatte ich noch einen Namen, aber jetzt ist er weg', sagt sie dem Gänseblümchen, das sie nach ihrem Namen fragt. Die Wörter verlieren ihren Sinn, die Zahlen ihre Bedeutung. Der Nonsens herrscht und die Köpfe würden rollen, ginge es nach dem Willen der verrückten Schachkönigin.
Man spricht von einem 'Alice im Wunderland-Syndrom' bei Menschen, die sich und ihre Umgebung auf halluzinatorische Weise verändert wahrnehmen.
Die träumende Alice und der erzählende Carroll begegnen sich in einer entgrenzten, 'ver-rückten' Welt. In ihr können sie sich verlieren und erwachen dann mit gebrochenen Flügeln in der ordentlichen Welt der Vernunft.
Zurück bleibt eine drängende Sehnsucht nach jener 'anderen' Welt jenseits der verordneten Regeln, eine Sehnsucht, die sie miteinander und die sie auch mit uns verbindet. Und die vielleicht erklärt, warum Alice im Wunderland zu jenem weltweiten Klassiker wurde, der auch nach aberhundert Adaptionen in Wort, Bild und Ton nichts an seiner Kraft eingebüsst hat.
Was der kindlichen Phantasie noch zugestanden wird, ist der erwachsenen Vernunft meist verboten. Oder sie sucht sich ihre legitimierten Fluchtwege und Traumorte in den fingierten Räumen der Literatur, im berauschenden Eintauchen in die Welt der Musik, des Tanzes, des Films. Und des Theaters.
Geri Dillier